Kindeswohlgefährdung

Die Gefahr von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung ist in den ersten fünf Lebensjahren am größten, stellt der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung fest (BMFSFJ 2009, S. 83). Während dieser Zeit sterben mehr Kinder in der Folge von Vernachlässigung und Misshandlung als in jedem späteren Alter.

Das Sozialgesetzbuch regelt die staatlichen Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Eingriffsmöglichkeiten bei einer Kindeswohlgefährdung. Dem Staat kommt dabei das „Wächteramt“ zu. Er versteht sich als Aufsichts- und Hilfsorgan beim Versagen elterlicher Erziehung. Staatliche Einrichtungen müssen dabei die Einhaltung der elterlichen Verpflichtung und Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Kinder überwachen und gegebenenfalls eingreifen. Doch es gibt auch gesellschaftliche Gruppen, Vereine und Organisationen, die hier tätig werden. Sie sehen den Ansatz für Kinderschutz vor allem in der Verwirklichung der Rechte des Kindes. Kinderschutz ist als Teil einer umfassenden Gewaltprävention zu verstehen.

Keine Einzelfälle
„Das Interesse der Öffentlichkeit entzündet sich in der Regel an dramatisch verlaufenen Einzelfällen. (...) Der jeweilige Einzelfall steht jedoch für viele Fälle von Kindeswohlgefährdungen, die weniger in das Licht der Öffentlichkeit geraten: Für Kinder, die nicht ausreichend ernährt werden, die gesundheitsgefährdenden Lebensbedingungen ausgesetzt werden, die emotional und sozial stark vernachlässigt werden, die körperlich oder seelisch misshandelt werden, die keine oder nur geringe Entwicklungsanregungen erhalten. Wie viele Kinder dies in Deutschland sind, ist nicht annähernd präzise zu bestimmen. Die Schätzungen differieren zwischen 48.000 und 430.000 Kinder im Alter bis zu sechs Jahren, die in gefährdenden Lebensbedingungen auf-wachsen.“ (Bundesjugendkuratorium 2007, S. 5)

Kinderschutz und frühe Hilfen
Kinderschutz und frühe Hilfen beschreiben den staatlichen Ansatz, der im Sozialgesetzbuch unter dem Begriff „Kindeswohlgefährdung“ geregelt ist. Kinderschutz und frühe Hilfen folgen dabei unterschiedlichen Logiken (vgl. Schone 2010, S. 4–7):

  • Beim Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung geht es um rechtlich festgelegte Interventionen bei Gefährdungen, die eine erhebliche Schädigung zur Folge haben können. Im Blick ist hier das einzelne Kind und sein Anspruch auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl. Es geht also um die Abwehr konkret identifizierbarer Gefährdungen, die auch von den Eltern ausgehen können. Es handelt sich dabei im Extrem um Zwangseingriffe in die Familie und um einen Eingriff in das elterliche Sorgerecht.

  • Frühe Hilfen betreffen die Ausgestaltung einer helfenden Infrastruktur, die sehr niederschwellig angesiedelt ist. Sie wendet sich insbesondere an Familien in Problemlagen und möchte verhindern, dass sich Schwierigkeiten zu Problemen entwickeln. Diese Hilfen basieren auf der Grundlage von Freiwilligkeit. Der Schwerpunkt staatlicher präventiver Tätigkeit im Sinne des Kinderschutzgesetzes liegt in diesem Bereich der frühen Hilfen. Allerdings ist die Gewährung früher Hilfen Ermessenssache, es gibt keinen Rechtsanspruch darauf.

Was ist Kindeswohlgefährdung?
Der Begriff Kindeswohl ist juristisch gesehen der zentrale Begriff für elterliche Verantwortung für das Kind, aber auch für staatliche Hilfen und Eingriffe, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Kindeswohl betrifft also das Verhältnis von Staat und Familie in den Dimensionen Eingriff, Hilfe und Kontrolle (vgl. Oelkers 2011, S. 310). Obwohl dem Begriff im Kinderschutzgesetz eine zentrale Rolle zukommt, ist er in vielen Punkten interpretationsbedürftig und nicht klar definiert (vgl. Fegert 2011). Als Gefährdungsursachen des Kindeswohls werden im BGB (§ 1666, Abs. 1) vier Bereiche benannt (Schmid/Meysen 2006, S. 2–1):

  • die missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge,
  • die Vernachlässigung des Kindes,
  • das unverschuldete Elternversagen oder
  • das Verhalten eines/einer Dritten.

Bürgerliches Gesetzbuch § 1666, Abs. 1
„Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maß nahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.“

Wenn einer oder mehrere dieser vier Tatbestandsmerkmale zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden bzw. Hilfe zur Gewährleistung des Kindeswohls anzunehmen, hat das Familiengericht zur Abwendung der Gefahr die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das Gericht kann dabei Eingriffe in die Elternrechte bis hin zum Entzug des Elternrechts vornehmen.

Das Kindeswohl beinhaltet die beiden Dimensionen Förderung und Schutz: „Kinder und Jugendliche bedürfen der positiven Förderung, um sich zu eigenverantwortlichen, mündigen Persönlichkeiten zu entwickeln. Außerdem müssen sie vor Gefahren für ihr Wohl geschützt werden.“ (Schmid/Meysen 2006, S. 2–3)

Kindeswohlgefährdung

Oft fangen Sätze nach einer körperlichen Misshandlung so an:

  • Es hat sich den Kopf am Bettpfosten gestoßen ...
  • Mein Kind ist die Treppe runter gefallen ...
  • Julia hat den heißen Ofen angefasst ...
  • Andere Kinder oder seine Geschwister haben ihn verprügelt und gegen die Schaukel gestoßen ...
  • Das Baby ist vom Wickeltisch gefallen ...
  • So habe ich Marion gefunden, als ich zurückkam ...
  • Dann hat das Kind plötzlich alles ausgespuckt und hat Krämpfe gekriegt und dann bin ich hergekommen ...
  • Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen ...
  • Nein, damit haben wir nichts zu tun, ich brächte mich um, wenn das die Wahrheit wäre ...

(Kinderschutzzentrum Berlin 2009, S. 34)

Der Begriff Kindeswohlgefährdung definiert dabei die Grenze, an der die Rechte der Eltern enden. Diese Elternrechte haben im Grundgesetz (Art. 6, Abs. 2) einen hohen Stellenwert. Nehmen die Eltern diese Verantwortung nicht wahr oder können sie diese nicht wahrnehmen, so ist der Staat verpflichtet, einzugreifen. Diese Funktion des Staates wird oft als „Wächteramt“ des Staates beschrieben. Eingriffe des Staats dürfen jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nur geschehen, wenn drei Kriterien für die Feststellung einer Kindeswohl-gefährdung gleichzeitig erfüllt sind (Schmid/Meysen 2006, S. 2–5 f.):

  • gegenwärtig vorhandene Gefahr: Es muss also eine aktuell vorhandene Gefahr für das Wohlergehen des Kindes benannt werden können.

  • Erheblichkeit der Schädigung: Das Kind muss durch eine drohende oder bereits eingetretene Schädigung an Leib und Leben bedroht sein.

  • Sicherheit der Vorhersage: Es muss eine „mit ziemlicher Sicherheit“ vorhersagbare gefährdungsbedingte, erhebliche Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung prognostiziert werden. Die Prognose entfällt, wenn die Schädigung bereits eingetreten ist.

Diese im BGB und der Rechtsprechung benannten Ursachen weichen von der in den Sozialwissenschaften üblichen Einteilung der Gefährdungsursachen in die Bereiche „Misshandlung“, „Vernachlässigung“ und „sexueller Missbrauch“ ab. In der Fachliteratur werden die Gefährdungen jedoch anhand dieser Dimensionen diskutiert und oft unter dem Begriff „Gewalt gegen Kinder“ zusammengefasst (vgl. Kap. 2.2).

Kindeswohlgefährdung erkennen
Heinz Kindler (2006, S. 71–2) benennt vor dem Hintergrund international eingesetzter Diagnoseinstrumente fünf zentrale Einschätzungs-faktoren:

  • Erhebliche Besorgnis wegen einer gegenwärtigen Misshandlung, Vernachlässigung oder eines sexuellen Missbrauchs. Hierfür müssen deutliche Hinweise (z. B. Verletzungsspuren) vorliegen.

  • Augenscheinlich ernsthafte Beeinträchtigungen der Fürsorgefähigkeiten des gegenwärtig betreuenden Elternteils durch psychische Erkrankung, Sucht oder Partnerschaftsgewalt. Auch ohne erkennbare Spuren muss die gegenwärtige Sicherheit eines Kindes als nicht gewährleistet angesehen werden, wenn der gegenwärtig betreuende Elternteil in seiner Fähigkeit zur Fürsorge deutlich eingeschränkt erscheint.

  • Das Verhalten eines Haushaltsmitglieds mit Zugang zum Kind erscheint gewalttätig oder in hohem Maße unkontrolliert bzw. es werden glaubhafte Drohungen gegen ein Kind ausgesprochen: Die gegenwärtige Sicherheit eines Kindes kann durch die Anwesenheit eines Haushaltsmitglieds, das eine Tendenz zu gewalttätigem, stimmungslabilem Verhalten zeigt, erheblich beeinträchtigt werden.

  • Der Zugang zum Kind wird verweigert, das Kind ist unauffindbar bzw. es bestehen ernsthafte Hinweise für eine bevorstehende Verbringung des Kindes in einen nicht kontrollierbaren Bereich. Der plötzliche Rückzug einer Familie und die Verweigerung des Zugangs zum Kind hat sich in Gefährdungsfällen als Warnhinweis auf eine möglicherweise eskalierende Gefährdung erwiesen.

  • Elterliche Verantwortungsabwehr und Ablehnung von Hilfen bei deutlichen Hinweisen auf kindeswohlgefährdende Situationen in der unmittelbaren Vorgeschichte. Kindeswohlgefährdende Situationen treten nach gegenwärtigem Wissensstand vielfach nicht isoliert, sondern wiederholt auf.

Gefährdungseinschätzungen
Die Jugendämter in Deutschland führten im Jahr 2012 ca. 107.000 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch.
Von allen Verfahren bewerteten die Jugendämter 17.000 (16 %) eindeutig als Kindeswohlgefährdungen („akute Kindeswohl-gefährdung“). Bei 21.000 Verfahren (20 %) konnte eine Gefährdung des Kindes nicht ausgeschlossen werden („latente Kindeswohlgefährdung“). Zwei von drei Kindern (66 %), bei denen eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung vorlag, wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf. In 26 % der Fälle wurden Anzeichen für psychische Misshandlung festgestellt. Ähnlich häufig, nämlich mit einem Anteil von 24 %, wiesen die Kinder Anzeichen für körperliche Misshandlung auf. Anzeichen für sexuelle Gewalt wurden in 5 % der Verfahren festgestellt. Jedes vierte Kind (25 %), für das ein Verfahren zur Ein-schätzung der Gefährdung des Kindeswohls durchgeführt wurde, hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet.
(Statistisches Bundesamt. Pressemitteilung Nr. 251 vom 29.7.2013)

 

Gefährdung nicht wahrnehmen
„Schwierig erscheint insbesondere die fortgesetzte Nichtwahrnehmung von Vernachlässigung, Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch als medizinisches Problem. Zwar bestehen entsprechende Codes in der in Deutschland gültigen Version der internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-10), tatsächlich führt die Situation im SGB V (§ 294a) durch die Pflicht zur Mitteilung drittverursachter Gesundheitsschäden an Krankenkassen dazu, dass in der Medizin derzeit kaum Misshandlungsdiagnosen gestellt werden, obwohl die diagnostischen Möglichkeiten vorhanden wären. (...) Zumindest kommt die Nennung einer Misshandlungsdiagnose in unserem Gesundheitssystem einer Einschaltung der Staatsanwaltschaft und der Strafverfolgungsbehörden gleich. Deshalb liegen in Deutschland – im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern – keine reliablen Gesundheitsstatistiken zum Thema Misshandlung, sexueller Missbrauch vor.“ (Fegert 2011, S. 5 f.) Diese Mitteilungspflicht wurde durch eine Gesetzesänderung im August 2013 aufgehoben.

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